Dienstag, 24. Januar 2012

Marx vs. Hegel

Zufälligerweise entdeckte ich, passend zu unserem unterrichtlichen Exkurs in den historischen Materialismus und die dauernden Verweise auf Hegel, ein altes Essay aus der zehnten Klasse. Darin werden die geschichtsphilosophischen Theorien Marx und Hegels kurz umrissen, verglichen und kritisiert. Es folgt auch noch eine eigene Geschichtsphilosophie, die ich rückblickend wohl als pragmatisch-metaphysischer Nihilismus bezeichnen würde.

Viele Philosophen haben es sich zur Aufgabe gemacht, die menschliche Geschichte genauestens zu untersuchen und Muster aufzudecken, um daraus zu lernen. So entwickelte auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel eine Theorie zum Sinn der Geschichte, aus der sein Schüler Karl Marx seine eigenen Vorstellungen des Historischen Materialismus ableitete.

Hegel ist für seine hochkomplexen Theorien bekannt, die es dem Rezipienten nicht einfach machen, seine Ausführungen zu deuten. Seine geschichtsphilosophische Theorie legt er in seinem Werk „Phänomenologie des Geistes“ dar. Es handelt, wie der Titel bereits andeutet, von der „Erscheinung“ (Phänomen) des Geistes im Sinne des so genannten „Weltgeistes“. Dieser bezeichnet nach Hegel die Entwicklung zur absoluten Wahrheit, zum Stadium vollständig entfalteter Vernunft. So zielt Hegels Theorie genau darauf ab: die höchste Form der Vernunft, in der die Menschen selbst ihren Wert erkennen. Der „Weltgeist“ soll die Menschen zu diesem Stadium führen, indem er welthistorische Persönlichkeiten durch „List“ lenkt. Zwar sind es nur einzelne Individuen, die so vom Weltgeist beeinflusst werden, doch nach Hegel sind es ebenjene Persönlichkeiten, die Massen bewegen und damit Fortschritt bringen können. Der Weltgeist ist dabei aber nicht als gottgleiches, unabhängiges Wesen zu verstehen, das über den Menschen schwebt, sondern er steckt in den Menschen und in ihrer Geschichte. Er ist die Entwicklung seiner selbst vom Unscheinbaren hin zur absoluten Wahrheit und hat somit sein eigenes Ende zum Zweck. So erklärt Hegel den stetigen Fortschritt der Menschheit dadurch, dass der Weltgeist sie Stück für Stück zur totalen Vernunft führt, in der sie sich ihres eigenen Geistes bewusst wird. Die Entwicklung verläuft treppenartig, denn nach jedem Fortschritt tun sich neue Widersprüche auf, die gelöst werden müssen, bis zum letztendlichen Ziel. Dabei kann es sowohl positive Vorbilder an welthistorischen Persönlichkeiten geben, die direkt einen Schritt zur Vernunft machen, aber auch negative Vorbilder. Jene negativen, gar schlechten Persönlichkeiten würden zwar denken, ihrem eigenen Willen entsprechend zu handeln, letztlich jedoch der Verwirklichung der Vernunft dienen. So könnte beispielsweise der zweite Weltkrieg, ausgelöst durch die „Persönlichkeit“ Adolf Hitler, nach Hegel dazu gedient haben, den Menschen klar zu machen, dass etwas derartiges nie wieder geschehen dürfe.

Karl Marx erkennt die stufenhafte Entwicklung der Geschichte an, hat aber ansonsten, wie er selbst sagte, „Hegels Theorie vom Kopf auf die Füße gestellt“. Er sieht die Ursachen des menschlichen Fortschritts nicht im Streben nach Vernunft, sondern vielmehr bedingt durch ökonomische Faktoren. Als stetige und einzige Konstante in der Geschichte erkennt er das Streben nach Eigentum an. Die Ursachen dafür sind für ihn anthropologisch bedingt. So benötigt der Mensch, um seine Lebenssituation zu verbessern, stets Eigentum. Natürlicherweise tut sich immer eine Schere auf zwischen reichen Menschen und armen, die den reichen untergeben sind. Während die Reichen den Fortschritt erleben, bleibt die untere Schicht, in der Antike Sklaven, später, im Mittelalter, Leibeigene, und in der Moderne das Proletariat, auf einem gleich bleibenden Niveau. Wird der Unterschied jedoch zu groß, so gibt es eine Revolution, und die Arbeitsbedingungen werden dem Fortschritt angepasst. Danach jedoch tun sich wieder Differenzen auf, und dasselbe beginnt von neuem.

Im Gegensatz zu Hegel sieht Marx nicht irgendwann ein Ende des Fortschritts in Form der absoluten Vernunft. Demnach müsse man, um Gerechtigkeit zu erhalten, die Arbeitsbedingungen des Proletariats dem Fortschritt anpassen. Marx’ Vision ist eine ewige, parallele Entwicklung der Arbeitsverhältnisse zum Fortschritt. Dazu sieht er die „Umerziehung“ der Menschen vor, bis diese bereit sind, in der von Marx angestrebten Welt, wo alle gleich behandelt werden, zu leben.

Die offensichtlichen Schwächen von Marx’ Theorie liegen in ihrer Umsetzung. Ob eine Umerziehung der Menschen, die die Abgewöhnung der Gier beinhaltet, tatsächlich möglich ist, erscheint fragwürdig. Zudem setzt Marx die Weitererhaltung des ständigen Fortschritts als gegeben voraus. Wie aber soll Fortschritt entstehen, wenn Einzelleistungen keine Bedeutung mehr zugesagt wird? In Hegels Theorie sind es die Einzelnen, die Massen bewegen. Der Historische Materialismus birgt die Gefahr, dass die völlige Gleichstellung aller Menschen zwar zu einer Anpassung an den Fortschritt führt, dieser aber ausbleibt. Da sich die Emotionen der Menschen aber nicht ausschalten lassen, würde es Widerstände geben, und das System fiele zusammen. Eine solche Vorstellungen vom Kommunismus, Marx’ Weltvorstellung nach der „Übergangsphase“ des Sozialismus, würde sich wunderbar passend in Hegels Theorie einreihen: Die Menschheit probiert es aus, um festzustellen dass es nicht zur Vernunft führt, und ist dem Endstadium wieder ein Stück näher. Darin liegt gerade der Vorteil an Hegels Ausführungen: Alle möglichen Ereignisse lassen sich in irgendeiner Art und Weise so interpretieren, dass daraus eine vernünftige Handlung entsteht. So ist eine der Kernaussagen Hegels: „Alles, was geschieht, ist vernünftig.“ Aber eben jene Perfektion ist gleichzeitig der Schwachpunkt der Theorie. Sie scheint zu ideal. Die Vermutung liegt nahe, dass die positiven Folgen all dieser Katastrophen wie Kriege u. Ä. rein imaginär sind, dass man sie „hineininterpretiert“. Denn der Weltgeist ist rein spekulativ; es gibt keinerlei Beweis für seine Existenz. Weiterführend kann man das ganze System auch umdrehen: Was, wenn es tatsächlich eine Art „Weltgeist“ gibt, dieser uns aber nicht zur Vernunft, sondern ins Verderben führt? Man würde dabei allen Ereignissen ihren negativen Charakter lassen, und den positiven eine negative Folge zusprechen. So könnte man als Beispiel die französische Revolution nehmen. Hätte Frankreich keine Demokratie gehabt, als Deutschland im ersten Weltkrieg besiegt wurde, so hätte es auch Deutschland mit dem Versailler Vertrag keine Demokratie als Staatsform aufgezwungen. Und vielleicht wäre dann nie der zweite Weltkrieg ausgebrochen, denn die Nationalsozialisten hetzten ja ebenso gegen den Versailler Vertrag. Demnach hätte, wenn man sich wie Hegel alle Interpretationsmöglichkeiten frei lässt, die Französische Revolution den zweiten Weltkrieg ausgelöst.

Hegel ist demnach mit seiner Theorie erstaunlich optimistisch, obwohl sich auf gleicher Basis eine extrem pessimistische Idee erstellen lässt.

Marx hat ein weiteres Problem: Um die Menschen umzuerziehen, bedarf es einer Regierung. Demnach lenkt diese Regierung Massen, Einzelne bewegen also Massen. Selbst Marx persönlich bewegt Massen, indem er seine Theorie verbreitet. Er ordnet sich deshalb in die Reihe der welthistorischen Persönlichkeiten ein, seine ganze Theorie fügt sich in die Ausführungen zum Weltgeist.

Dem hat Marx nichts entgegenzusetzen; Hegels Ideen passen nicht in seine Theorie des historischen Materialismus.

Hegel schreibt den Philosophen eine andere Bedeutung zu: Sie sollen nicht lenken, sondern beschreiben. Er meint damit, dass die Philosophen das Wirken und die Entwicklung des Weltgeistes untersuchen sollen. Damit bezieht er natürlich nur seine eigenen Anhänger ein; andere Philosophen werden zu den historischen Persönlichkeiten gerechnet. Hegel selbst sieht seine Theorie auch als das perfekte Stadium an. Er habe die absolute Vernunft bereits erreicht, da er sich der Existenz des Weltgeistes bewusst wurde. Dies ist jedoch ein Zirkelargument. Wäre er sich einer Illusion bewusst geworden, hätte er auch keinen höheren Grad der Weisheit erlangt. Er sieht seine Theorie als selbstverständlich an und spart sich damit die fehlenden Belege.

Wenn ich mir nun selbst überlege, wie ich die Geschichte zu verstehen habe, so kann ich mich weder Marx noch Hegel vollends anschließen, obwohl ich Hegels Theorie bevorzuge. Sie erscheint mir schlichtweg realistischer.

Dennoch halte ich Hegels Weltgeist für zu ideal. Seine Theorie ist zu optimistisch. Erfahrungsgemäß sind allzu schöne Wahrheiten häufig Trugbilder; Scheinwelten, in die sich die Menschen flüchten, die die Augen vor der Wahrheit verschließen.

Ähnliche Ansichten vermitteln die Lehren des alten China. Laotse schreibt im 81. Kapitel seines „Tao Te King“: „Wahre Worte sind nicht schön. Schöne Worte sind nicht wahr.“

Ich halte es deshalb für realistischer, keine ideale Theorie zu vertreten. Wie ich bereits angedeutet habe, lässt sich mit Hegels Weltgeist auch eine Lenkung der Menschheit ins Verderben erklären. Man muss beide Aspekte berücksichtigen, die positiven Seiten der Menschheit, die einen Schritt zur absoluten Vernunft darstellen, und die negativen, die zum Untergang der Menschheit führen. Diese beiden Faktoren halten sich solange in der Waage, bis eine Seite ihr Ziel erreicht. Demnach würde das Schicksal der Menschheit von den Taten und Entwicklungen ihrer selbst abhängen.

Folglich wäre die Geschichte eine Art Prüfung, in der sich zeigen muss, ob die Menschen zur Vernunft finden oder nicht. Von wem jedoch soll diese Prüfung den Menschen auferlegt werden?

Dem Agnostiker bleibt nur eine Antwort: Von den Menschen selbst. Es muss ein natürlicher Prozess sein, in der sich die Menschheit entweder vollständig entfaltet, oder aber an sich selbst zu Grunde geht. Aktuelle Beispiele sind die Klimaveränderung oder die Forschung in CERN. Beides könnte die Menschen vernichten, entweder durch ein zerstörtes Klima, oder aber durch ein schwarzes Loch, dass die Erde verschluckt. Aber insbesondere die Forschung stellt doch eigentlich den Fortschritt dar, also den umgekehrten Weg zum Untergang. Wie lässt sich dies vereinbaren?

Man darf beiden Extreme nicht so eindimensional sehen. Nicht wie an einem Scheideweg bleibt einem entweder die eine, oder die andere Seite, die eine links entlang, die andere rechts. Eventuell führt der Weg des Fortschritts in Wahrheit zum Untergang, und die vermeintliche Verwahrlosung der Menschheit in Form der Abwendung von der Vernunft ist der Weg des Überlebens.

So wäre es doch möglich, dass die Menschen bei vollständig entfalteter Vernunft ihre eigene Irrelevanz erkennen und daran vergehen. Das Ganze würde von vorn beginnen, unabhängig von Ort und Zeit des Neuanfangs. Damit wäre der Sinn der Geschichte jener, die Menschen zu der Erkenntnis zu führen, dass es keinen Sinn gibt, und sie daran zu Grunde zu richten. Es handelt sich um ein Paradoxon. Aber gerade die Eigenschaft dieses Widerspruches, derart pessimistisch zu sein, lässt ihn seinen Zweck erfüllen.

Wie sollen sich die Menschen nun verhalten, um ihrem Untergang zu entgehen? Typischerweise gibt es zwei Möglichkeiten. Zum einen kann man den Fortschritt aufhalten, um die Entscheidung auf ewig hinauszuzögern. Dies ließe sich mit einer der von Marx’ entwickelten nicht unähnlichen Methode erreichen, nur eben mit dem Ziel, jeglichen Fortschritt zu unterbinden. Die Erfolgschancen sind aber dementsprechend gering.

Die andere Lösung ist, dass die Menschheit sich vor der Entscheidung darauf vorbereitet. Es muss den Menschen bewusst werden, dass ihre Existenz keinen tieferen Sinn hat, bevor sie von der absoluten Vernunft damit überwältigt werden. Vor dieser Stufe nämlich sind sie noch menschlich, und Selbstzerstörung ist keine menschliche Eigenschaft. Sie müssten akzeptieren, dass das Leben auf der Erde nur aus einer Verkettung von verschiedenen Ereignissen heraus entstanden ist.

Diese Perspektive mag zwar ziemlich deprimierend sein, beinhaltet aber auch positive Aspekte. Wenn es keinen allgemeingültigen Sinn gibt, außer dem, zu ebenjener Erkenntnis zu gelangen, kann man sein eigenes Leben ideal gestalten, ohne Zeit mit der Suche nach einem Sinn zu vergeuden. Und man kann es mit persönlichem Sinn füllen. So kann sich beispielsweise ein Arzt zur Aufgabe machen, Menschen zu heilen, und ein Lehrer, ihnen zu helfen, die Welt zu verstehen. Oder man versucht einfach, das persönliche Glück zu finden, fernab von jeglichen Ideen, die versuchen, es zu verallgemeinern.

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