Sonntag, 19. Februar 2012

Das utopische Element in Utopia

Utopia - heute der Inbegriff der idealen, wenngleich, auf ironisch-spöttische Weise schon im begriff enthalten, unmöglichen, nichtörtlichen, irrealen Gesellschaft, einer Stadt der Träume und der Träumer.
Thomas Morus entwarf die literarische Kategorie der Utopie, wie sie auch heute existiert - als positivistische Zukunftsvision. Zukunft ist hierbei als Ferne zu verstehen. Heute ist es die zeitliche Ferne, die zunehmend zur Nähe wird; bei mors war es die räumliche Ferne. Weit weg aber muss sie sein, die Utopie - sonst wäre sie nicht gesellschaftsfähig. Gerne doch beschäftigt der Mensch sich mit Traumwelten, sogar erkennt er an, was daran gut ist und was sogar explizit die unsrige Gesellschaft verbessre könnte - aber es sind ja alles Träume, Illusionen, alles bleibt - utopisch.
Zunehmend wurde die Utopie auch ausschließlich zu etwas euphemistischem, ihre Umkehrung nannte man Dystopie. Die Verfallsform von Utopia ist zwar in ihrer äußerlichen Gestalt düsterer, präsentiert sich eher in einem film noir als in einer philosophisch strukturierten Schrift, bezweckt aber genau das gleiche. Die Dystopie ist das ex-negativo-Argument zur Utopie. Anstelle zu zeigen, was alles ideal wäre, zeigt man, wozu es führte, wenn man sich nicht dorthin bewegt.
Will man aber konsequent sein, so fragt sich doch, ob wirklich alle Utopien unerfüllbare Fata Morganas sind, die lediglich als Kompass des Guten fungieren, oder doch verkannte Gesellschaftmodelle.
In Morus Utopia beispielsweise erscheint doch gar nicht allzu viel Utopisches verborgen zu sein. Die meisten seiner Ansätze sind längst nicht erfüllt, gelten aber auch nicht mehr als unerfüllbar.
Da wäre der Verzicht auf Besitz. Obschon dies im Kapitalismus natürlich fernab jeder Konkretion liegt, sind wir doch in der Lage, uns eine Gesellschaft, in der es keinen Besitz gibt, vorzustellen als etwas Konkretes. Es existieren (kleine) Gesellschaften, die auch ohne Besitz auskommen. Durch unsere sozialen Auffangmechanismen ist es heute (zumindest sehr bedingt) auch möglich, ohne Besitz innerhalb unsere Gesellschaft zu überleben. Und auf dieser kleinen Klausel, die Morus von den Vertragstheoretikern so deutlich abhebt, fußt auch der wichtigste verbleibende Teil von Utopia: der Arbeitszwang, denn wenn alle vom Gemeinwesen versorgt werden wollen, muss dieses ja auch, im Interesse aller, mit (man verzeihe den hier historisch eigentlich unpassenden Begriff) notwendigen Gebrauchswerten zu versorgen. Auch die scheinbar gerechte Strukturierung von Utopia beruht darauf, dass die Versorgung aller durch alle ein logistisches Problem darstellt. Deshalb muss die Bevölkerungsgröße der einzelnen Siedlungen reguliert werden, deshalb braucht es eine Regierung, die natürlich zirkulieren muss, um die Gefahr der Besitzanhäufung zu unterbinden. Natürlich muss auch die Regierung auf dem Feld arbeiten, denn auch sie will ja mit Essen versorgt werden. Und wenn jeder nur wahre Gebrauchswerte verwendet, so folgt zwangsweise eine Überproduktion und folglich auch stofflicher Reichtum des Gemeinwesens. Es scheint tatsächlich, als würde der Verzicht auf Eigentum Utopia in eine paradiesische Gesellschaft verwandeln.
Umso interessanter ist es, das Fundament zu untersuchen, auf welchem dieser Verzicht steht.
Was ist notwendig, damit Individuen bereitwillig auf Eigentum verzichten? Man würde ihnen natürlich die oben genannten Vorteile erläutern. Folglich ist ein gewisses Maß an Verstand vonnöten, um der Argumentation zu folgen. Desweiteren brauchen die Bürger Vernunft, zumindest in einer primitiven Form, um zu urteilen, dass die prophezeite, besitzlose Gesellschaft eine bessere ist als diejenige, in der sie leben. Da allen bewusst sein wird, dass auch die sicherste Beweisführung "zum Paradies" keine Gewissheit bieten kann, müssen die aktuellen, vor-utopischen Zustände entsprechend schlecht, zumindest aber nicht gut sein, damit das Risiko sich auch lohnt.
Weiteres ist nicht vonnöten, um zum Entschluss zu gelangen sich einer Utopie anzuschließen... oder doch?
Es gibt gewisse Aspekte, die nicht vorhanden sein dürfen, weil sie die Entwicklung sonst verhindern würde. Als erstes fällt natürlich das Besitzstreben heraus. Es versteht sich von selbst, dass ein Menschenbild des Besitzstrebens eine besitzlose Gesellschaft nicht dulden kann. Das soll nicht heißen, dass nach Besitz strebende Menschen in der aktuellen Welt eine Utopie unterbänden - diese Eigenschaft darf nur nicht immanent im menschlichen Wesen verankert sein.
Ein Sartre`scher Existentialist hätte demnach gar keine Probleme mit Utopia, denn hier gibt es ja kein Wesen, das dem Ganzen im Weg stehen könnte.
Schwierig wird es bei einem anderen Aspekt: Man bedenke, dass die Gebrauchswerte den Utopiern nicht zugeteilt werden, sondern dass sie selbst auswählen, was sie brauchen und was nicht. Nehmen wir an, jeder Utopier wäre absolut überzeugt von der Ideologie seines geliebten Utopias. Er weiß demnach, dass er nur soviel verbrauchen darf, wie er auch benötigt. Nun kommt, sagen wir einmal, ein Bäcker mit Brötchen. Wie viele nimmt er sich? Wie viele braucht er denn? Holt er sich eine Kalorienrechnertabelle, Waage und Taschenrechner? Fragt er seinen Nachbarn, wie viel er sonst nimmt? Nimmt er einfach so viele, wie sonst auch immer? Worauf ich hinauswill, ist die Schwierigkeit der Bedürfnisabschätzung. Wäre jeder Mensch überhaupt in der Lage, zu beurteilen, wieviel Essen er braucht, so gäbe es keine übergewichtigen Menschen (und auch keine untergewichtigen). Wenn wir in diesem Beispiel bleiben: das unterschiedliche Gewicht entspringt nicht dem Verlangen nach immer mehr Gebrauchswerten, sondern schlichtweg der Fehleinschätzung eines natürlichen Bedürfnisses. Und wenn es nun um andere Güter geht, wie soll das erst funktionieren? Im abstraktesten Fall: Wer könnte heute schon exakt sagen, und zwar ehrlich, wie viel Geld er unbedingt braucht, wenn eine utopische Regierung ihn danach fragen würde? Gesetzt dem Fall, er würde es ehrlich versuchen - er läge trotzdem falsch. Und das ist in beiden Fällen fatal. Wenn er zuviel verlangt, schadet das Utopia - wenn er zu wenig verlangt, wird er es merken, und das nächste Mal mehr nehmen, zur Sicherheit. Ganz außer Diskussion steht dabei die Steigerbarkeit von Bedürfnissen. In manchen Fällen entspringt das Immer-Mehr-Wollen nicht den Klauen der kapitalistischen Produktionsweise, sonder vielmehr der physiologischen Beschaffenheit unseres Gehirns. An Glückshormone beispielsweise passen sich unsere Synapsen an. Folglich ist es ganz natürlich und ehrlich, dass solche Bedürfnisse mit der Zeit steigen.
Letztlich bleibt Utopia also Utopie. Jene Insel ist keine Utopie des Wollens, nein.
Sie ist eine Utopie des Könnens.

2 Kommentare:

  1. Ist Utopia bei Morus nicht auf eine Überschussproduktion ausgelegt? Das müsste dem steigenden Konsumverhalten doch erst einmal gewachsen sein. Und das Konsumverhalten kann ja nicht ewig steigen (sonst wären längst alle Kapitalisten an Herzverfettung gestorben), also ist das Problem doch lösbar (vgl. auch die von dir genannten, wenn auch kleinen, "Utopias", die scheinen das Problem ja auch überwunden zu haben). Als anderes konkretes Problem war mir aber die Überbevölkerung eingefallen. Natürlich werden permanent Leute ausgesiedelt, aber wenn eines Tages die gesamte Welt nach diesem Beispiel funktionieren sollte, was dann? Müssen wir auf die Entwicklung der Raumfahrt warten und solange unsere Kinder töten?
    Bitte um Rückmeldung und ggf. Korrektur
    Thomas

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  2. Die Überschussproduktion scheint tatsächliche eine (Voraus-)Setzung zu sein. Wenn man aber nicht davon ausgeht, dass auf Utopia einfach eine Unmenge an Ressourcen zufällig gegeben ist, so folgt die Überproduktion aus der Gesellschaftsform: Wenn jeder nur so viel verbraucht, wie er wirklich benötigt, gleichzeitig aber pflichtmäßig viel arbeitet und zudem Arbeitsteilung die Produktivität erhöht, so muss es zu einer Überproduktion kommen, einfach weil ein Großteil der Produkte nicht konsumiert wird. Folglich kann man mit der aus der "Mäßigung" abgeleiteten Überproduktion nicht gegen die Notwendigkeit der Mäßigung argumentieren. das wäre wie: Wenn A, dann B. Wenn B, dann Nicht-A. Also wenn A, dann Nicht-A...
    Die Überbevölkerung hingegen ist ein ernstes Problem. Dieses ist Abe rmeiner Ansicht nach kein spezifisch "utopisches" Problem: Jede Gesellschaft, in der wir Medizin, Schutz gegen Fressfeinde, Häuser, keine Konkurrenz mit anderen Säugetieren usw. haben wird zu einer Überpopulation führen. In Utopia genau wie auf dem Rest der Welt, solange keine begrenzenden Faktoren wirken. Auf einer Insel wie bei mors wäre das natürlich recht schnell ein Problem...

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